Zusammenfassung
Eine Auswertung von 26 systematischen Reviews (156 Einzelstudien, 22 verschiedene Schmerzsyndrome, 42 spezielle Vergleiche) zur Wirksamkeit von Antidepressiva (AD) im Vergleich zu Plazebo bei chronischen Schmerzen fand bei lediglich 9 Schmerzsynsdromen (11 Vergleiche) eine gewisse Wirksamkeit.
Die Evidenz für eine Wirksamkeit wurde bei 4 Schmerzsyndromen als moderat (beste Bewertung!) eingestuft und betraf Serotonin- Norepinephrin-Reuptake-Inhibitoren (SNRI) bei Rückenschmerz, postoperativem Schmerz, Fibromyalgie und neuropathischem Schmerz (vgl. Tab. 1).
Bei 31 Vergleichen erwiesen sich AD entweder als nicht wirksam oder die Ergebnisse waren unschlüssig.
Bei 45% aller Reviews bestanden Interessenkonflikte der Autoren durch Verbindungen zur Pharmaindustrie, bei den Studien zu SNRI sogar bei 68%. Die Autoren und Kommentatoren dieser großen Übersicht kommen zu dem Schluss, dass AD für die meisten Patienten mit chronischen Schmerzen enttäuschend sind. Sie plädieren für eine kritischere Verschreibung von AD in dieser Indikation und drängen auf Studien, die unabhängig von der Industrie sind. Eine Überarbeitung der Leitlinie Chronische Schmerzen steht seit Jahren aus.
Etwa jeder fünfte Mensch weltweit hat ein chronisches Schmerzsyndrom (CS;, ) welches nicht tumorbedingt ist. Nach ICD-11 liegt ein CS vor, wenn die Schmerzen ≥ 3 Monate anhalten. Ein CS kann zu einer erheblichen Einbuße an Lebensqualität führen. Am häufigsten sind in Europa und den USA chronische Rücken- und Kopfschmerzen, gefolgt von orofazialen, genitalen und abdominellen Schmerzen [1], [2]. Führende Diagnosen sind Fibromyalgie, Reizdarmsyndrom und Schmerzen im Bewegungsapparat. Die Wirksamkeit der Schmerztherapie ist häufig unbefriedigend und ein Erfolg oft nur vorübergehend. Das Risiko für Angststörungen, Depressionen und sozialen Rückzug ist hoch.
Die Schmerztherapie erfolgt analog zum allgemein anerkannten erweiterten WHO-Stufenschema zur (Tumor)-Schmerztherapie [5], [6]. Als Schmerzmittel stehen Opioide und nicht-opioide Analgetika zur Verfügung. Zu letzteren zählen z.B. selektive und nicht-selektive nicht-steroidale Antiphlogistika (NSAID) sowie Natriumkanalblocker (Lidocain, Carbamazepin, Lamotrigin).
NSAID sind zwar wirksam, aber wegen relevanter Nebenwirkungen auf Nieren, Herz-Kreislaufsystem und Schleimhäute nur für einen begrenzten Zeitraum geeignet. Das am häufigsten eingesetzte Schmerzmittel, Paracetamol, ist bei den meisten Indikationen unzureichend wirksam [8] und bei vielen CS nicht einmal untersucht. Während die Verordnungszahlen der NSAID in den letzten Jahren zurückgehen, nehmen die Opioid-Verordnungen kontinuierlich zu (in D im Jahr 2012: 401 Mio. DDD und 2021 463 Mio. DDD[9]. Opioide werden bei etwa einem Drittel der nicht-tumorbedingten Schmerzen verordnet [10]; nachteilig ist aber das hohe Nebenwirkungs- und Abhängigkeitspotenzial.
Adjuvant werden auch GABA-/Kalziumkanalblocker (Gabapentin, Pregabalin), Alpha2- Adrenorezeptor-Agonisten (Tizanidin, Clonidin) und Antidepressiva (AD) eingesetzt wie selektive Serotonin-Reuptake-Hemmer (SSRI), Noradrenalin-Reuptake-Hemmer (SNRI) und trizyklische Antidepressiva (TCA), darüber hinaus auch Cannabinoide und Botulinus. Sinnvoll sind nicht- medikamentöse Maßnahmen wie z.B. Bewegungstherapie, Funktionstrain Entspannungsverfahren und Verhaltenstherapie.
AD sind bei postoperativen, neuropathischen oder tumorbedingten Schmerzen wirksam[11], [12]. Die Verordnung bei CS ist jedoch ein „Off-label-use“. Die Nutzen-Risiko-Relation von TCA, die oft eingesetzt werden[13], ist aufgrund der häufigen anticholinergen Nebenwirkungen unklar: Mundtrockenheit, Akkommodationsstörungen, Harnverhalt, Obstipation, Tachykardie, Unruhe, Angst bis hin zu Bewusstseinsstörungen.
In der „Leitlinie für chronischen Schmerz“, die sich seit 2018 in Überarbeitung befindet[14], werden AD bei funktionellen und neuropathischen Schmerzen als therapeutische Option nur erwogen. In der bis 2022 gültigen Nationalen Versorgungsleitlinie für die Behandlung nicht-spezifischer Kreuzschmerzen können AD lt. Expertenkonsens eingesetzt werden bei Schlafstörungen oder bei einer Depression als Komorbidität [15]. Auch die Leitlinie zur Therapie bei Fibromyalgie befindet sich seit > 5 Jahren in Überarbeitung [16]. NSAID, Acetylsalicylsäure, Paracetamol oder Metamizol werden in dieser Indikation wegen fehlender Nachweise zur Wirksamkeit nicht empfohlen. Die Leitlinie hebt die Bedeutung nicht- medikamentöser Maßnahmen hervor und schlägt eine zeitlich befristete Therapie mit AD über 3- 6 Monate vor, in erster Linie mit Amitriptylin 10-50 mg/d oder Duloxetin 60 mg/d, wenn zusätzlich eine depressive oder allgemeine Angststörung besteht.
Einer kanadischen Studie zufolge wurden etwa 9% aller verordneten AD in der CS-Therapie eingesetzt (13). In Kanada, USA, United Kingdom und Taiwan werden bei älteren Menschen sogar mehr AD in der Schmerztherapie verordnet als in der antidepressiven Therapie [17].
Zur Evaluation der Wirksamkeit, Sicherheit und Toleranz von AD in der Therapie von CS wurde jetzt eine Zusammenfassung aller systematischen Reviews (SR) veröffentlicht. Dabei wurden große Datenbanken wie PubMed, Embase, APA PsycINFO und die Cochrane Database of Systematic Reviews bis Juni 2022 auf SR durchsucht, die sich mit der Wirksamkeit von AD im Vergleich zu Plazebo bei Erwachsenen mit CS verschiedener Ursachen befasst haben und die von „Peer-Reviewern“ geprüft waren. Zwei unabhängige Gutachter analysierten die Ergebnisse zur Schmerzlinderung. Die Schmerzintensität war primärer Endpunkt und wurde in einer analogen Schmerzskala von 0 (kein Schmerz) bis 100 Punkten (stärkster Schmerz) eingeordnet. Die Unterschiede zu Plazebo wurden als mittlere Differenzen (MD) mit 95%-Konfidenzintervallen (CI) und bei dichotomen Risiken als „Risk Ratios“ (RR) angegeben. Bei Kopfschmerz war die Zahl der Episoden und bei der Schmerzintensität der Befund am Ende der Behandlung ausschlaggebend. Angesichts der Vielzahl von Studien mit ihren unterschiedlichen Behandlungszeiträumen wurde für die aktuelle Analyse derjenige Zeitpunkt als Therapieende festgelegt, der für > 50% der eingeschlossenen Studien als Endpunkt maßgeblich war.
Bei den restlichen Studien wurde der Schmerzscore gewertet, der zeitlich nahe am planmäßigen Therapieende dokumentiert worden war. Für den Nachweis einer Wirksamkeit wurde eine Abnahme um mindestens 10 Punkte auf der Schmerzskala gefordert, wie es in Studien zur Beurteilung von Schmerzen des Bewegungsapparats üblich ist.
Sekundäre Endpunkte waren Therapiesicherheit und Verträglichkeit; hierfür waren Abbrüche wegen Nebenwirkungen ausschlaggebend. Die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz wurde an Hand der GRADE- Kriterien bewertet (Grading of Recommendations Assessment, Development, and Evaluation; [19]).
Ergebnisse: Ausgewertet wurden 26 SR mit insgesamt 156 Einzelstudien und > 25.000 Teilnehmern aus der Zeit von 2012 bis 2022. Insgesamt wurde nach 22 nicht-tumorbedingten Schmerzursachen differenziert und 42 verschiedene AD aus insgesamt 8 AD-Klassen im Vergleich zu Plazebo beurteilt.
Für jede Schmerzursache musste mindestens ein SR vorliegen. Für die häufigen Schmerzursachen existierten mehrere SR, für Fibromyalgie sogar 5, in denen aber jeweils eine andere AD-Klasse untersucht worden war.
Es wurden 12 SR zu TCA bewertet, 11 zu SSRI, 8 zu SNRI, 4 zu tetrazyklischen/atypischen AD, 2 zu Serotonin-Antagonisten und -Reuptake-Inhibitoren (SARI), jeweils einer zu Noradrenalin-Dopamin- Reuptake-Inhibitoren (NDRI) und Monoaminooxidase-Inhibitoren (MAOI). Bei 98% der Studien konnten die Interessenkonflikte der Autoren beurteilt werden: Nur bei 29% fanden sich keine Verbindungen zur Industrie, bei 45% bestanden offensichtliche und bei 25% war die Situation unklar.
Primärer Endpunkt (Schmerzkontrolle): Nur 9 von 26 SR konnten eine Evidenz für Wirksamkeit von AD im Vergleich zu Plazebo nachweisen. Die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz war moderat (s. Tab. 1).
-Dies galt vor allem für die SNRI, besonders Duloxetin in einer medianen Dosis von 60 (60-120) mg/d bei den häufigsten CS: chronischer Rückenschmerz (MD: -5,3; CI: -7,3 bis -3,3), postoperativer Schmerz nach überwiegend orthopädischen Operationen (MD: -7,3; CI: -12,9 bis -1,7), neuropathischer Schmerz (MD: -6,8; CI: -8,7 bis -4,8) und Fibromyalgie (RR: 1,4; CI: 1,3 bis 1,6).
-Eine starke Evidenz für eine Wirksamkeit konnte in keinem Review nachgewiesen werden, eine niedrige für SNRI, SSRI und TCA in weiteren Indikationen (s. Tab. 1).
-In 31 SR waren AD entweder unwirksam (5 Analysen zu SSRI bei Rückenschmerz und Fibromyalgie) oder nicht sicher wirksam (26 Analysen).
-Für weitere CS, wie Ischialgie, Migräne, atypischer orofazialer Schmerz, chronische Prostatitis, Schmerzen im kleinen Becken oder in der Blase, waren SNRI, SSRI und TniCcAht sicher wirksam, ebenso wie NDRI, SARI, MAOI und tetrazyklische/atypische AD.
-Bei funktioneller Dyspepsie (TCA, SSRI) oder atypischem Brustschmerz (TCA) waren sie unwirksam.
Sekundärer Endpunkt (Sicherheit): Die Ergebnisse zu Sicherheit und Verträglichkeit der AD im Vergleich zu Plazebo waren meistens unsicher. SNRI beispielsweise scheinen das Risiko für Nebenwirkungen bei Chemotherapie-induziertem Schmerz, Ischialgie, Rückenschmerz und Osteoarthritis zu erhöhen, nicht aber bei postoperativem und Spannungskopfschmerz.
Diskussion: Die meisten Studien, die eine Wirksamkeit von TCA bei Neuropathie, chronischem Spannungskopfschmerz bzw. Reizdarmsyndrom belegten, sind > 20 Jahre alt, und es gibt bereits Hinweise, dass ihre Wirksamkeit überschätzt wird [20]. Fraglich ist überdies die klinische Relevanz einer Abnahme von 10 Punkten auf einer 100 Punkte umfassenden Schmerzskala.
Für SNRI, deren Wirksamkeit bei postoperativem, neuropathischem und Rückenschmerz als „moderat belegt“ eingestuft wurde, lag die MD unter 10 Punkten.
Unbefriedigend ist auch das Ergebnis bei Fibromyalgie: Der therapeutische Erfolg wurde bemessen am Prozentsatz der Probanden mit einer mindestens 50%igen Schmerzreduktion im Vergleich zu Plazebo. Im Ergebnis waren 31% gebessert unter SNRI und 21% unter Plazebo. Das entspricht einer absoluten Risikoreduktion von 9% (CI: 7-9%; [21]). Zwei Kommentatoren dieser Untersuchung [22] heben bei der schwachen Datenlage die Bedeutung von körperlicher und sozialer Aktivität, Selbsthilfegruppen und Verhaltenstherapie in dieser Indikation hervor, die idealerweise ergänzt werden sollte durch eine vertrauensvolle und empathische Arzt-Patient Beziehung.
Fazit:
Duloxetin scheint in diesem Review einen moderaten signifikanten Effekt zu haben.
Unserer Erfahrung nach tolerieren nur 50% der Patienten das Medikament und berichten dann eher positiv.
Insgesamt ist frustrierend, wie gering der Effekt der teilweise auch in Leitlinien empfohlenen Antidepressiva ist.